Gipfeltreffen zweier Stars der Kinderliteratur

"Bücher allein können nicht erziehen"
 

Pumuckl-Mutter Ellis Kaut und Urmel-Vater Max Kruse über Schreiben, Erziehung, Alter und das Leben

 

Autobahn München-Garmisch. Auf dem Weg: Ellis Kaut, 83, Mutter des Pumuckl. Sie ist bei Max Kruse, 83, Vater des Urmel, in Penzberg zum Tee eingeladen. Ein kleines Gipfeltreffen zweier vielfach preisgekrönter Kinderbuchstars. Kaut, die als Schauspielerin, bildene Künstlerin und Fotografin arbeitete und fürs Radio auch den "Kater Musch" erfand, trifft Kruse, der stets lieber Geschichten schrieb ("Der Löwe ist los", "Don Blech") statt die Puppenfabrik seiner Mutter Käthe zu übernehmen. Die Haustüre öffnet sich. Kruse begrüßt eine alte Freundin.

Kruse: Wie geht`s Dir denn, Ellis?
Kaut: Ach, im Grunde ist das Altwerden gar nicht uninteressant, Max.
Kruse: Der Verstand ist wie ein Muskel. Er muss trainiert werden, Ellis. Heimito von Doderer sagt: Im Alter muss man sich einen dicken Mantel von konkreter Tätigkeit zulegen, um die Eiseskälte abfedern zu können, die einen umgibt.
Kaut: Sehr gut, Max.
SZ: Seit wann kennen Sie sich?
Kruse: Über 40 Jahre. Ich sehe uns beide noch im Zug sitzen. Am Fenster.

 


 

Kaut: Ja, wir waren auf einer Lesereise. Irgendwohin ins Norddeutsche.
Kruse: Wir dachten gerade über eine neue Figur nach. Kurze Zeit später haben wir tatsächlich neue Figuren geschaffen. Du den Pumuckl und ich das Urmel.
SZ: Herr Kruse, was schätzen Sie an den Werken der Autorin Ellis Kaut?
Kruse: Ihren Witz, den Einfallsreichtum, die zauberhafte Figur Pumuckl. Und das unverständlich große Einfühlungsvermögen in die Seele kleiner Kinder.
SZ: Und Sie Frau Kaut, was schätzen Sie an Kruse?
Kaut: Dass er nicht alles so Ernst nimmt. Sich selbst am wenigsten.SZ: Viele der Bücher von Max Kruse sind nicht zuletzt durch die Bearbeitungen der Augsburger Puppenkiste berühmt geworden. Wäre der Pumuckl auch als Marionette denkbar, Frau Kaut?
Kaut: Ich weiß nicht. Der Pumuckl war zunächst einmal eine reine Hörspiel-Figur. Elf Jahre lang lief er im Radio. Es geht ja um das Sichtbar- und das Unsichtbarsein. Das lässt sich im Radio am besten darstellen.
SZ: Hätte auch das Urmel von Hans Clarin im Radio gesprochen funktioniert, Herr Kruse?
Kruse: Das ist alles eine Frage des Zufalls und des Glücks. Sicher ist, dass das Urmel einer der erfolgreichsten Stars der Augsburger Puppenkiste geworden ist. Das freut mich natürlich.
Kaut: Ich habe auch einmal etwas für die Puppenkiste geschrieben. "Schlupp vom grünen Stern". Das war überhaupt nicht erfolgreich. Hans Clarins Stimme war für Pumuckl unglaublich wichtig. Es gibt ja auch Fassungen mit anderen Sprechern. Auch Kölsch etwa, und auf Schwyzerdütsch. Durchgesetzt aber hat sich Clarin und das Bayerische.


 

Kruse: Es gibt viele. Wenn ich mir manchmal die Verlagslisten mit den Neuerscheinungen durchlese, frage ich mich oft: Was soll man denn noch machen? In jeder Ecke sitzt jemand und schreibt etwas. Die Kinderliteratur ist heute gar nicht schlecht, viel besser als in meiner Kindheit. Sie ist offener, bespricht auch unbequeme Themen. Was hie und da fehlt, ist vielleicht eine starke, eine tragende Figur. So etwas wie "Puh der Bär", "Peterchens Mondfahrt", "Dr. Doolittle" oder wie die Figuren bei Erich Kästner. Die Verlage brauchen einen langen Atem, damit sie Talente entdecken und fördern, Der fehlt heutzutage manchmal.
SZ: Frau Kaut, haben Sie "Harry Potter" gelesen?
Kaut: Nein. Ich muss ehrlich sagen, dass ich da nicht mehr auf dem neuesten Stand bin.
SZ: Stimmt es, dass Sie noch fast 30 Pumuckl-Geschichten in der Schublade haben? Ist das nicht unverantwortlich?
Kaut: Ja, die liegen da. Rundfunkskripte, die als Vorlage für Drehbücher dienen sollten. Derzeit gibt es wohl kein Geld dafür.
SZ: Haben Sie schon mal Pumuckl-TV gesehen? Hat das noch etwas mit Ihrer Figur zu tun?
Kaut: So etwas schaue ich mir gar nicht an. Ich vermeide es, mich zu ärgern. Ich schlafe gerne ruhig. Wenn ich wüsste, was da läuft, würde ich wieder das Kämpfen beginnen. Aber ich möchte meinen Frieden haben.
Kruse: Trotzdem muss man wahnsinnig aufpassen, damit nicht jeder macht, was er will. Und über die Jahre hinweg ist ein regelrechter Rechte-Wirrwarr entstanden. Ständig gibt es neue Medien. DVD, CD-Rom, Computerspiele. Da verliert man schnell den Überblick. Die Figur entwickelt ein Eigenleben.
Kaut: Plötzlich entdecke ich irgendwo ein Lokal mit zweifelhaftem Ruf und das heißt: "Pumuckl-Bar". Da denkt man schon darüber nach, ob man nicht seinen Rechtsanwalt beauftragen sollte.


 

 

SZ: Wenn sich heute ein 20-Jähriger entschließt, Kinderbuchautor zu werden, wie sehen seine Chancen aus?
Kruse: Die jungen Leute haben einige Möglichkeiten. Sie sind viel unbekümmerter im Umgang mit Medien und die Verlage haben Hunger nach neuen Talenten.
Kaut: Allein: Lektoren sind Mangelware. E-Mails bleiben unbeantwortet. Und nach einem Jahr sind die Stars wieder vergessen.
SZ: Nach Ansicht der Buchhändler heißen derzeit die b esten Kinderbuchautoren: Jenny Nimmo, Kai Mayer und Eoin Colfer. Schon mal gehört?
Kruse: Nein, noch nie. Sicher ist: Die Verlage stöhnen, aber es geht ihnen wohl ganz gut. Klagen ist in der Branche so etwas wie eine Muttersprache.
SZ: Dabei dürften viele junge Verlagsleiter mit Ihren optimistischen Büchern aufgewachsen sein.
Kruse: Mit Büchern allein können Sie den Menschen nicht erziehen.
SZ: Nicht?
Kruse: Wenn ich viel Karl May gelesen habe, bin ich noch lange kein Indianer. Es macht mich traurig, wenn ich lese, dass in den USA ein hoher Prozentsatz weiterhin meint, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Die Dummheit der Menschen ist es, die überall die meisten Probleme verursacht.
Kaut: Außerdem muss man sich darüber im Klaren sein, dass es Wellenbewegungen sind, die das Leben der Menschen beeinflussen. Mal darf nicht über Sex geredet werden, dann reden alle nur noch über Sex.
Kruse: Komisch, nicht? Lesen jedenfalls ist und bleibt ein existenzielles Bedürfnis. Gedanken aufnehmen und im Kopf weiterspinnen - das wird es immer geben. Aber Literatur kreiert keine neuen Menschen. Der Erfolg der Bibel oder von Karl Marx erklärt sich nur dadurch, dass etwas formuliert wurde, was in den Menschen ohnehin latent vorhanden war. 
SZ: Als Kind haben Sie notgedrungen viel gelesen, Herr Kruse.
Kruse: Ich hatte Drüsenfieber und Rachitis. Auf Bitten meiner Mutter, die ja die bekannte Puppenschöpferin Käthe Kruse war, wurde ich sogar vom Ministerpräsidenten persönlich ein Vierteljahr von der Schule beurlaubt. Da hatte ich tatsächlich viel Zeit zum Lesen.

SZ: Herr Kruse, stimmt es, dass es der Kauf einer Kühltruhe war, der Sie auf die Idee mit dem tiefgefrorenen Saurier gebracht hat?
Kruse: Das stimmt. Damals führte ich allein den Haushalt für mich und meinen Sohn. Mich faszinierte die Idee, nie wieder Konservenbüchsen öffnen zu müssen. Also kaufte ich eine der ersten Tiefkühltruhen. Als ich eine Forelle aus der Truhe holte, dachte ich: Wie wäre es, wenn ein tiefgefrorenes Ei aus der Urzeit nach Millionen von Jahren wiedergefunden würde?
SZ: Die Idee hatte später auch Steven Spielberg.
Kruse: Bald könnte sie ganz real möglich werden.
Kaut: Eine faszinierende Idee.
SZ: Ähnlich faszinierend, wie der anarchische Kobold in einer Schreinerwerkstatt. Was ist aus Herrn Nagler geworden, dem Vorbild für den Meiste Eder?
Kaut: Das Regal, das er mir einmal geschreinert hat, das habe ich immer noch. Er war ein kauziger Münchner Hinterhofschreiner. Vor seiner Werkstatt stand ein Kastanienbaum, im ersten Stock wohnte er. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie ich an ihn gekommen bin. Den großen Erfolg der Figur hat er leider nicht mehr erlebt. Zumindest hat er noch mitbekommen, dass es eine Reihe im Hörfunk gab, für die er sozusagen Modell gestanden hat. Da hatte er nichts dagegen.
SZ: Pumuckl wurde zu einem bayerischen Exportartikel.
Kaut: Früher hörte ich oft: "DerPumuckl funktioniert nur in Bayern." Aber wenn der Cowboy weltweit funktioniert, muss doch auch ein bayerischer Schreiner weltweit funktionieren. Tut er ja auch. Ich weiß nicht genau, in wie viele Sprachen er übersetzt wurde, aber auch Estnisch ist neuerdings dabei. Nur die Amerikaner verschließen sich.
Kruse: Das Problem kenne ich. Mene Bücher wurden bisher in 18 Sprachen übersetzt. Das Urmel gibt es auf Japanisch, Koreanisch, Chinesisch. Nur die Amerikaner wollen nicht. 
SZ: Wie lange werden Ihre Figuren leben?
Kruse: Hoffentlich ein bisschen noch. Die Leute, die mit unseren Werken aufgewachsen sind, haben mitlerweile selber Kinder. Da kann es passieren, dass das Urmel oder der Pumuckl in die nächste Generation getragen werden. Immer wieder, wenn ich am Telefon meinen Namen sage, heißt es am anderen Ende: "Sind Sie es wirklich?" Jüngst suchte ich einen uralten Artikel aus dem Geo-Magazin. Sofort meldete sich der Chefredakteur und erzählte mir alles mögliche über meine Bücher. Das ist schön.
Kaut: Wenn die Leute den Namen Pumuckl hören, fangen sie sofort an zu lachen. Das Gesicht wird freundlich, der Mensch öffnet sich.
SZ: Aber man hat Sie doch auch mal als Pumuckl-Mörderin beschimpft, Frau Kaut.
Kaut: Das war nach der letzen Radio-Folge. Der Pumuckl verabschiedete sich für immer auf einem Dampfer von Meister Eder. Das Telefon stand nicht mehr still. Auch beim BR klingelte es ununterbrochen. Die Menschen beschimpften mich. Aber ich hatte keine Lust mehr. Meine Geschichten waren erzählt.
SZ: Pumuckl und Urmel sind einsame Vertreter ihrer jeweiligen Gattung. Wer sind unter den Kinderbuchautoren die neuen Kruses, wer die neuen Kauts?  

 

SZ: Wie waren Sie als Kind, Frau Kaut?
Kaut: Lebhaft.
Kruse: Das kann ich mir gut vorstellen.
Kaut: Offenbar habe ich sehr viel geredet, denn wenn mein Vater ins Hofbräuhaus ging und in Ruhe eine Maß Bier trinken wollte, nahm er mich zwar mit, vergaß aber auch nie die Schere und die Ausschneidebögen. Damit ich nur ja Ruhe gab. Am Sonntag gingen wir in die Liebfrauenkirche. Man hatte uns beigebracht, dass man Opferung, Wandlung und Kommunion besucht haben muss, um seine Sonntagspflicht erfüllt zu haben. Weil im Dom damals immer mehrere Feiern gleichzeitig stattfanden, konnte man wandernd die Messe in zehn Minuten hinter sich bringen. Dann haben mein Vater und ich Weißwürste gegessen. Ich habe mich sehr gut mit ihm verstanden. Die Figur des Meister Eder hat viel von ihm.
Kruse: Ich bin ein eher introvertierter Mensch. Sage in Gesellschaft kaum etwas. Auch aus Höflichkeit. Die Leute quatschen ja dauernd. Da kann ich sie doch nicht unterbrechen.
SZ: Spiegelt sich in Ihrem Werk auch Autobiographisches, Herr Kruse?
Kruse: Vielleicht das Urmel mit seinem abgeschlossenen Großfamilienleben auf einer Insel. Ja, das könnte aus meiner Kindheit stammen. Jedenfalls bin ich ein Mensch, der wniger bewertet als beobachtet. Jemand, der mit einer eindeutigen Sprache klare Geschichten erzählen möchte.
Kaut: Auch meine Sprache war immer schlicht. Früher habe ich schon auch mal Konzertkritiken für die Zeitung verfasst. Aber ich habe nie so viele Fremdwörter gebraucht wie Joachim Kaiser oder andere berühmte Kritiker. Am wichtigsten war mir immer: Ich möchte verstanden werden. Und dabei ist es auch egal, ob man "dass" mit "ss" oder "ß" schreibt. Beim Pumuckl ging es uns auch um einen pädagogischen Ansatz. Mit ihm sollte den Kindern unterhaltsam gezeigt werden, was gut ist. Und was schlecht. Nun, vielleicht hat es ja in Einzelfällen doch was gebracht.
Kruse: Ich bedaure, dass ich eigentlich erst jetzt begreife, was Schreiben ist. Das Leben ist viel zu kurz. Erst am Ende weiß man, wie wertvoll es ist.
SZ: Was ist schreiben, Herr Kruse?
Kruse: Gefrorenes Denken. Das Denken festzuhalten und es in Ruhe zu betrachten. Und ein Bedürfnis nach Kreativität. Die Lust, etwas Bleibendes zu schaffen.
Kaut: Wenn ich modelliere oder male, dann habe ich etwas Greifbares in der Hand, nicht nur ein beschriebenes Stück Papier. Das greifbare Resultat macht mich eigentlich glücklicher.
SZ: Ihre Figuren werden sicher nach Ihrem Tod weiterleben. Gibt es etwas, das Sie sich für diese Zeit wünschen?
Kruse: Ich wünsche mir, dass sich die Menschen von ihren Ideologien befreien und gelassener werden.
Kaut: Ich freue mich auf den Moment, wenn ich Ruhe habe. Sorgen sind sinnlos. Irgendwann geht alles zu Ende.
Kruse: Dass alles zu Ende ist und nie wieder kommen soll, da beißt man schon dran. Vielleicht aber ist es die beste aller Möglichkeiten.
 
 
 

 

 

Moderation: Martin Zips


 

 
(Aus: Süddeutsche Zeitung, Samstag/ Sonntag, 4./5. September 2004, S. 51) 

 

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