Hörspiel-Highlight des Monats Mai 2003

 

 

Der Untergang der Titanic
Hörspiel von Ursula Völkel

Es gibt Katastrophen, die  sich tief in das Gedächtnis der Menschheit eingegraben haben. Die angeblich unsinkbare Titanic, die auf ihrer Jungfernfahrt 1912 mit einem Eisberg kollidierte und in weniger als drei Stunden sank, gehört zu diesen Schicksalsschlägen, die zum Symbol für die Hybris des modernen Menschens gegenüber der Schicksalsmacht des Lebens geworden sind. Das Scheitern der Technik an der Urgewalt der Natur manifestiert sich in dem Bild der sich vor ihrem Sinken steil aufrichtenden Titanic, welches selbst nach über 90 Jahren eine grausige Faszination auszuüben vermag. Am 10. April 1912 lief die Titanic, mit 46329 BRT das größte Schiff seiner Zeit (Länge 269m, Breite 28m, 51000 PS Maschinenleistung, Höchstgeschwindigkeit 22,3 kn) und der ganze Stolz der White Star Line, zu ihrer Jungfernfahrt aus.
An dieser Stelle setzt auch das Hörspiel von Ursula Vögel ein. Der Einstieg in die Geschichte erfolgt klassisch durch einen Erztählerkommentar zur Bedeutung dieses Tages für die Linienschiffahrt zwischen dem Ärmelkanal und New York: Die Titanic ist angetreten, die Wettfahrt um das "Blaue Band" gegen die Konkurrenz von der Cunard Line als schnellstes Linienschiff zu gewinnen - um jeden Preis! Dieses technische Fortschrittswunder wird natürlich von entsprechenden Luxus und Pomp begleitet, was vom Erzähler durch den Hinweis auf die unzähligen Passagiere dritter Klasse, für die die Fahrt mit der Titanic kein gesellschaftlicher Event, sondern die Hoffnung auf eine bessere Zunkunft in Amerika bedeutete, thematisiert wird. Die angedeutete gesellschaftskritische Ebene wird jedoch rasch verlassen (und findet auch im weiteren Verlauf des Hörspiels kaum mehr Beachtung), um die technischen Besonderheiten und den Luxus der Titanic zu beschreiben. In Unterhaltungen schaulustiger Kinder und Erwachsener werden vor allem technische Details heruntergebetet. Dieser Einstiegsdialog wirkt steif und gekünstelt, gerade weil ein altklug referierendes Mädchen ihren Vater, der auf der Titanic mitfährt, als Quelle für ihr Fachwissen angibt.   
Anschließend wechselt der Schauplatz auf die Kommandobrücke des auslaufenden Schiffs, auf der sich der unsympathische und ruhmsüchtige Präsident der White Star Line mit Kapitän Smith über die Chancen, die Wettfahrt mit der Mauretania gewinnen zu können, unterhält. Mit dem Auftritt von Jansen, der sich gegenüber dem Kapitän kritisch über die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen auf der Titanic äußert, wird der Kreis der Hauptcharaktere geschlossen.
Die Exposition des Hörspiels bestimmt vor allem über die klaren Zeichnung der Hauptfiguren die Grundproblematik des Titanic-Schicksals als Resultat falscher Technikgläubigkeit, Ruhmessucht und hybrider Risikofreudigkeit - die kritischen Bedenken Jansens verhallen ungehört. Diese Problematik wird im weiteren Verlauf am Beispiel der überhöhten Geschwindigkeit, die auf Anordnung des Präsidenten gefahren wird (der sogar eine Überlastung der Maschinen für das "Blaue Band" in Kauf zu nehmen bereit ist), weitergeführt - leider auch die genauen Angaben von Bruttoregistertonnen, Lebensmittelmengen und Geschwindigkeitsangaben!
Bisher spielt sich das Hörspiel hauptsächlich auf der Brücke ab, im Hintergrund pfeifft ein bedrohlicher Wind, beinahe so, als ob das Schiff in der Antarktis treiben würde. Dies soll wohl die Gefährlichkeit der ersten Pack-Eiswarnungen unterstreichen, doch enttäuschenderweise werden in diesem Hörspiel die akkustischen Effekte recht spärlich und plump eingesetzt und verfehlen so meist ihre spannungssteigernde Wirkung. Insgesamt ist das Hörspiel eher nüchtern und sachlich angelegt. Ohne Effektehascherei wird geradlinig der Spannungsbogen anhand des Konflikts zwischen der Unvernunft des Kapitäns, der - im Bannkreis des Präsidenten - trotz der Warnungen die schnelle Fahrt beibehält, und zwischen dem sich wegen der drohenden Gefahr und der mangelnden Rettungsbote sorgenden Jansen, aufgebaut. Diese Schwarz-Weiß-Zeichnung skrupelloser Profit- und Ruhmgier (verkörpert durch den Präsidenten der Schiffahrtsgesellschaft) auf der einen und reflektiertendem, aber machtlosem Mahner (Jansen) auf der anderen Seite wird lediglich durch den Kapitän aufgebrochen. Gerade er ist es, der in seiner Unentschlossenheit den interessantesten Charakter des Hörspiels darstellt.
Nachdem die erste Seite der MC mit eindeutigen Eisbergwarnungen endet, wird der Kapitän unruhig und will die Fahrt drosseln lassen, was der Präsident jedoch verhindert. Obwohl die alleinige Befehlsgewalt über das Schiff bei Smith liegt, und dies vom Präsidenten auch nicht in Frage gestellt wird, ordnet sich der Kapitän dem Chef der Schiffahrtsgesellschaft unter.  
Der letzte Abend vor der Ankunft in New York am 15. April bricht an. Das Luxusschiff bereitet sich auf eine rauschende Abschiedsparty vor. Gleichzeitig wird die Situation immer bedrohlicher. Mehr und mehr Warnungen anderer Schiffe über Eisberge treffen auf der Titanic ein, doch der Kapitän bleibt nun unbeirrt bei seinem Entschluß, die Wettfahrt um das "Blaue Band" zu gewinnen. Barsch kanzelt er Jansens Bedenken mit der Bemerkung, "wegen so einer Lapalie" könne man sich schließlich keine zweieinhalb Stunden Verspätung leisten, ab. Trotz der unübersehbaren Gefahr überläßt der Kapitän seinem ersten Offizier Murdock das Kommando auf der Brücke, um dem festlichen Abschiedsabend beiwohnen zu können.
Wie der Erzähler feststellt, verbreiten sich unter der Mannschaft Gerüchte über die Gefahr. Ursula Vögel benutzt hierbei die Figur des Jansen, um einen lexikonartigen Vortrag über Eisberge und die Gefahr der Labradordrift verkünden zu lassen, was sehr gekünstelt wirkt. Während der Kapitän mit seinen Passagieren feiert, nimmt die Tragödie unweigerlich ihren Lauf. Der Stellvertreter Smiths, Murdock, weist die sich häufenden Warnungen der anderen Schiffe als Intrigen der um das "Blaue Band" konkurrierenden Cunert Line zurück. Plötzlich taucht ein Eisberg aus dem Dunkel auf; der erste Offizier trifft in selbstgefälliger Überschätzung seiner Fähigkeiten die falsche Entscheidung, Backbord beizudrehen, was zu der folgenschweren Kollision führt. Der Kapitän erscheint wieder auf der Brücke und übernimmt das Kommando, doch eine Rettung des schwer beschädigten Schiffes scheint aussichtslos.
Unpassend ist in dieser Notsituation das disziplinierte Heldentum, das der Kapitän an den Tag legt, und mit dem er die Schuld an dem Unglück allein auf seinen ersten Offizier Murdock abwälzt, obwohl er selbst doch durch die rücksichtslose Beibehaltung der Geschwindigkeit seine Pflicht verletzt hat. Im Gegensatz zu den anderen Hauptfiguren des Hörspiels ist der Kapitän aber der einzige Charakter, der nicht nur einen klar umrissenen Typus von Gut oder Böse, moralisch oder egoistisch zu verkörpern hat. Smith weist als einziger Brüche in seiner Identiät auf, aber dieser Ansatz wird in keinster Weise problematisiert oder weitergeführt - dies kann jedoch von einem Kinderhörspiel auch nicht erwartet werden.
Der Kapitän befiehlt eine Evakuierung des Luxusliners in die Rettungsboote, jedoch unter Vermeidung einer Paniksituation - die Passagiere sollen nicht sofort über den tödlichen Ernst der Lage informiert werden. Die wenigen Sprecher, die die empörten und verwunderten Passagiere darstellen, reichen allerdings an dieser Stelle nicht aus, die Tragweite der Situation adäquat "hörbar" zu machen. Diese Szene entbehrt jeglicher Spannung und Dramatik, was leider der Gesamtkonzeption des Hörspiels entspricht.
Ein längerer Erzählerkommentar faßt die Tragik der Titanic zusammen, die noch nicht einmal rote SOS-Raketen an Bord hatte, weshalb zu spät Hilfe an den Unglücksort kam. Der Schluß des Hörspiels knüpft konsequent an die Grundthematik der Exposition an: Der Präsident, der mit seinem rigorosen Leichtsinn die Tragödie mitverursacht hat, wurde zwar gerettet, mußte sich aber vor einem Gericht für sein Verhalten verantworten! Schade ist nur, daß in diesem Zusammenhang nicht noch einmal auf die ungeheure Zahl von Opfer verwiesen wurde, die der hybride Leichtsinn einer blinden Technikgläubigkeit gefordert hatte. Von den 1308 Passagieren und 898 Mann Besatzung konnten lediglich 703 gerettet werden.
Trotz einiger Schwächen ein gelungenes Hörspiel, das in konsequent unaufgeregter Art nüchtern und sachlich einen klaren Aufbau des Plots zeigt. Als Sammlerstück unbedingt zu empfehlen!

Literatur zum Schicksal der Titanic:
Eaton, J.P.: Titanic, Triumph und Tragödie. Beiträge von J. P. Eaton und C. A. Haas, München 1997.

Michael

 

 

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