Zugegeben - es ist nicht leicht, "Otherland" zu beschreiben. Folgt man der Definition seines Schöpfers, des amerikanischen Schriftstellers Tad Williams, so handelt es sich vereinfacht ausgedrückt um unsere Welt am Ende des 21. Jahrhunderts. Etwas komplexer formuliert: Otherland ist eine Zukunftsvision, ein virtuelles Zweitland, geschaffen von einer fiktiven Bruderschaft reicher, alter Männer, die es sich zum Ziel gesetzt haben, als digitalisierte Wesen Unsterblichkeit zu erlangen. Doch die Erfüllung dieses jahrhundertealten Menschheitstraums fordert einen hohen Preis, die Energie der Kinder.
Wer sich
diesbezüglich an die Zeitdiebe bei Endes "Momo" erinnert fühlt, dem sei gesagt, daß den - im wahrsten Sinne des Wortes - grauen Herren des Otherlands nicht mit einer Sonnenblume in der Hand und einer Schildkröte unterm Arm beizukommen ist. Die tödliche Gefahr ahnend, macht sich bei Williams eine Gruppe von Menschen auf den Weg, um das Geheimnis der Gralsbruderschaft zu ergründen. Bevor der Autor diese Mutigen jedoch tatsächlich zusammenkommen läßt, sieht sich der Leser der Romanvorlage einem vielschichtigen Handlungsgeflecht ausgesetzt, daß zu entwirren einem Gang durch's Labyrinth gleicht. Verschiedenste Parallelwelten korrelieren mit diversen Erzählern und die mit unterschiedlichsten Hauptfiguren.
 


 

Wie einst Tolkiens "Herr der Ringe" wirft der auf rund 3660 Seiten angelegte Mehrteiler des Amerikaners die Frage nach den medialen Darstellungsmöglichkeiten auf. Kein Wunder also, daß die nach fünf Jahren Vorbereitungszeit beim Hessischen Rundfunk und dem Münchner Hörverlag begonnene Vertonung für sich in Anspruch nehmen kann, die größte Hörspiel-Produktion der Radiogeschichte zu sein. Allein "Stadt der goldenen Schatten", so der Titel des ersten Bandes, umfaßt im Audioformat stolze sechs CDs mit einer Laufzeit von 334 Minuten. Und auch die im März erscheinende zweite Staffel "Fluß aus blauem Feuer" steht dem in nichts nach, im Gegenteil: Mehr als sieben Stunden Unterhaltung lassen ansatzweise erahnen, in welchen Dimensionen sich eine Vertonung bewegen muß, an deren Ende 280 Rollen mit über 220 Sprechern besetzt sein werden.
Williams selbst ließ auf seiner Lesereise im vergangenen Oktober verlauten, er habe beim Schreiben keinen richtigen Plan gehabt und irgendwann die Kontrolle über sein Mammutwerk verloren, "it takes a life of his own." Diesem "Kontrollverlust" sieht man sich als Zuhörer leider ebenfalls nur allzu schnell ausgesetzt. Bereits der erste Track reißt einen in sekundenschnelle hinab in die Hölle des Ersten Weltkrieges und läßt den Adrenalinspiegel merklich ansteigen. Sowohl die Musik als auch die übrigen Geräusche schaffen eine derartig gewaltige Atmosphäre, daß sich die Geschehnisse beim ersten Mal weder verarbeiten noch einordnen lassen. Ein Schlachtfeld an Erzähl- und Handlungssträngen und der fliegende Wechsel von Personen läßt kaum Platz für eigene (Kopf)Bilder und schließt jegliches "Nebenbeihören" aus. Zu mächtig erscheint die Flut an Hinweisen, Verweisen, Verästelungen, zu gewagt der Versuch, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit auf eine metaphorische Formel zu bringen, was schon an sich ein Widerspruch ist.
Wer das Buch nicht vor Augen hat, wird dem Tempo dieses Audiodramas daher nur schwer folgen können, obwohl die einzelnen Tracks benutzerfreundlich im Abstand von fünf Minuten gesetzt wurden und sich unter den Sprechern allerlei renommierte Namen (Nina Hoss, Andreas Fröhlich u.a.) finden.
Bleibt zu hoffen, das sich für die gesamte, 24stündige Produktion letztendlich das bewahrheitet, was begeisterte Otherland-Leser bereits vielerorts bekunden: Nur in der Gesamtheit aller vier Teile ergebe sich eine wirklich sinnvolle Geschichte, deren Vernetzungen durchaus zu enträtseln seien.

Petra

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